Sozialgeschichte und Wirtschaftlichkeit des Schreibens
Da fiel mir doch zufällig am Abend Die Zeit vom 24. Juli in die Hände und ich konnt‘ den Literaturteil dann nicht ungelesen am Tisch zurücklassen. Zwei sehr spannende Artikel habe ich tatsächlich gefunden.
Der erste mit der zwar nur von hinten durch’s Knie ins Auge treffenden Überschrift „Wenn der Tag geht“ rankt sich um eine interessante Buchneuerscheinung, einer Essaysammlung von Ulrike Draesner. Schöne Frauen lesen – Über Schriftstellerinnen und die Bedingungen weiblichen Schreibens. Und dabei sehr schön der Artikelbeginn: „Braucht die Welt eine weibliche Literaturgeschichte? Nein, wenn dieser Kanon von der Annahme ausgeht, künstlerischer Rang und Geschlecht seien kausal verknüpft. Ja, wenn er glaubt, Frauenliteratur entstehe unter anderen sozialgeschichtlichen Bedingungen (Natalia Ginzburg war berüchtigt dafür, beim Abendessen vor Müdigkeit mit dem Kopf in den Pastateller zu fallen, da ihr Romanwerk morgens zwischen vier und sieben Uhr entstand), und diese Bedingungen als Element des Ästhetischen berücksichtigt.“ Es ist von Spleens die Rede, von Gegebenheiten und Angewohnheiten der Autorinnen, die für ihre Werke nicht unerheblich waren. Eine angeblich kurzweilie Lektüre zur Sozialgeschichte weiblichen Schreibens.
Der zweite spannende Artikel gibt zu lesen, was die Überschrift verspricht: „Nicht alles Neue ist gut“. Da hat der Literaturkritiker noch nicht einmal alle Titel der Frühjahrssaison gelesen, schon drohen die herbstlichen Neuerscheinungen. Ulrich Greiner beklagt die Masse der Neuerscheinungen und deren notdürftige Qualität und hat dabei ja nichtmal Unrecht. Seine Kalkulation: 14.000 Novitäten auf der letzten Frankfurter Buchmesse, von denen besteht die Hälfte aus Romanen. „Selbst wenn wir annähmen, nur ein Zehntel davon tauge etwas, hätten wir immer noch 700 Romane, die wir eigentlich lesen müssten, das heißt zwei pro Tag. – Kein Leser rechnet so, keiner will alles lesen, und müssen tut er schon gar nicht.“ Der Kritiker schon, oder sollte zumindest. Und Greiners sachliches Fazit ist so ernüchternd wie es nur sein kann: Viele Verlage „produzieren nämlich allzu oft Bücher, denen es an irgendeiner Notwendigkeit aus literarischen oder sachlichen Gründen völlig mangelt, Bücher, bei denen es ziemlich egal ist, ob man sie liest oder nicht. Auch der erste Blick in die Herbstproduktion weckt den Wunsch, die Verlage möchten aufhören, die Regale mit vollkommen Entbehrlichem vollzustopfen.“
Mir fallen dazu zwei Dinge ein: 1. Wohlstandsverwahrlosung in der Verlagswelt und 2. ein Anfall von Wahrscheinlichkeitsrechnung (wobei ich in Mathe leider nie eine Leuchte war…): bei all den Planeten im Weltall, MUSS mindestens ein weiterer bewohnt sein und zwar von intelligenten Lebewesen, die technisch weiter voraus sind als wir und ein Interesse daran haben, uns zu besuchen… Und wann kommt nun das eine wirklich lesenswerte Buch der Saison zu mir und entführt mich in eine andere Welt?
Danke, Herr Greiner, für diese ehrlichen Worte. Leider wird wohl keiner drauf hören, da Umsatz (= Titelzahl) wichtiger ist als klares Programm, aber gesagt gehört’s.