Literatur und „LITERATUR“
Oh deutschsprachiger Raum, Du Quell des hochtrabenden Literaturbegriffs … Während in vermutlich allen englischsprachigen Gebieten der Welt „Literatur“ erstmal alles ist, was zum Lesen geschrieben wurde, schlagen wir uns im deutschsprachigen Raum noch immer damit rum, dass Genres ja keine Literatur sind. Ausgeklügelte Kriminalromane – Fehlanzeige. Gesellschaftskritischer Liebesroman – wer auch immer bewahre! Genre-Mix – UM HIMMELS WILLEN, In welches Regal soll man das denn bitte stellen?
Hier ist nur LITERATUR, was „hohe Literatur“ ist und den Bachmannpreis verdient. Da drunter fangen wir mal gar nicht erst an zu diskutieren. Literatur zur Unterhaltung? Da könnte ja jede:r kommen. Alles andere als LITERATUR ist Schund. Prinzipiell.
Ich hab es glaub ich schon an so vielen Stellen gesagt und wiederhole mich womöglich: Aber können wir jetzt bitte endlich von diesem viel zu engen Literatur-Begriff wegkommen? Auch Autor:innen, die Genre schreiben, benutzen dasselbe Handwerkszeug, planen, plotten, schreiben, überarbeiten, arbeiten mit einem Lektorat zusammen, veröffentlichen und fangen wieder von vorne an. Viele von denen schreiben sogar sehr gewitzt, mit elends viel Recherche und manche auch mit philosophischem Hintergrund. Oder Studium in alten Sprachen. Sie verwenden Metaphern, sind klug und beherrschen ihr Handwerk. Warum soll das weniger wert sein als was Menschen als „hohe Literatur“ produzieren?
Ich verstehe nicht, warum wir da noch immer dran festhalten. Also, nicht wir alle, sondern Menschen in diesem Literaturbetrieb. Was bringt uns das?
Ich habe anno dazumal Anglistik studiert und im Englischen ist Schreiben = Handwerk. Das wird dort oft schon an Schulen und ganz sicher begleitend beim Studium gelehrt – in allen Facetten: von Nutztexten wie Anschreiben und CVs über vermittelnde Texte wie Zeitungsartikel bis hin zu kreativen Texten, wo man einfach mal mit Sprache und Wörtern, Rhythmus und Klang experimentieren darf. Da wird sich nicht mit Definitionen aufgehalten, sondern einfach mal gemacht. Und so sehr ich das im Bereich Softwareentwicklung und Ethik im Silicon Valley kritisiere, sehe ich im Bereich Sprache und Schreiben absolut kein Problem daran.
Schreiben ist Handwerk. Zum Lesen Geschriebenes ist Literatur.
Mein Vorschlag wäre ja, das Ganze nicht vom Produkt her zu diskutieren, sondern vom Handwerk her. Beherrscht jemand Recherche und Satzbau? Kann die Person gute Metaphern passend zum Text und der Welt der Geschichte erfinden? Wie gut gebaut und vielschichtig sind die Charaktere? Wie bildhaft kann sie die Welt rüberbringen?
Mir fallen noch sicher hundert weitere Kriterien ein, die man an einen Text anlegen könnte. Völlig unabhängig von Genre oder Preisen. Und ganz unten auf der Checkliste stünde immer: „Was ist der Zweck vom Text und erreicht er den?“
Es täte uns als Gesellschaft gut, mal über unsere Maßstäbe nachzudenken. Denn dieses ewige Festhalten an Modellen von 1860 in der Buchbranche genauso wie im Literaturbetrieb sagt auch etwas darüber aus, wie unsere Gesellschaft tickt. Und „zukunftsgerichtet“ ist da nicht in den Top100. Ein breiter Diskurs über Literatur – Genres eingeschlossen – würde die Diskussion lebendiger und bunter machen. Literatur soll nicht nur die Gesellschaft abbilden, sondern auch Diskussionen ermöglichen und vorantreiben. Es wäre schön, wenn wir da die volle Bandbreite berücksichtigen würden. Das würde uns auch näher an unsere Lebensrealität bringen. Und die brauchen wir, um überhaupt Literatur schaffen zu können. Schreiben ist Handwerk und unsere Lebenswelt der Rohstoff, aus dem wir Geschichten herstellen.