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Was wäre, wenn … ?

BrotdoseDas ist meine Brotdose. Meine Oma hat sie mir vor vielen Jahren gegeben und sie hat mich seit meiner Schulzeit begleitet. Die Dose ist alt, an einer Stelle etwas angeschlagen, hat eine Delle an der Seite, aber sonst ist sie noch tadellos. Ich mag sie sehr, sie ist von meinem Urgroßvater. Mehr als diese Brotdose und seine Aktentasche hatte er nicht dabei, als er damals – wohl direkt von der Arbeit aus und getrennt von Frau und Tochter – Schlesien verlassen musste.

In Anbetracht der aktuellen Situation in Europa wage ich mich an ein Gedankenexperiment: was wäre, wenn ich heute direkt vom Dayjob aus das Land hätte verlassen müssen?

Ein Blick in meinen Rucksack zeigt: er ist voll und nicht gerade leicht. Aber ist irgendetwas darin, das mir bei der Flucht irgendwie helfen würde? Arbeitsnotebook, Schreiberzeitschrift, Arbeitsnotizbuch, zwei private Notizbücher, ein (heute mal dünnes) Buch, Visitenkarten beruflich und privat, Firmentelefon, privates Telefon mit Kredit- & Bankomat-, Fahrkarte, Führerschein und Journalistenausweis dabei, je ein Ladekabel, eine kleine Powerbank mit 4 Telefonladungen (halb voll), mein Kindle mit momentan 17 Büchern darauf, ein USB-Stick, eine Wasserflasche, eine kleine Tasche mit Kontaktlinsen-Notfallset, ein paar Hygieneartikeln und etwas Sonnencreme, Lockpicking Tools (weil ich immer Angst davor habe, mich mal auszusperren), Kopfhörer, Sonnenbrille, Regenschirm, portabler Kaffeebecher und die genannte Brotdose – beide am Ende des Tages leer. Portemonnaie mit knapp fünf Euro in Münzen, die Autopapiere und zwei Schlüsselbunde für Arbeit und daheim. Getragen habe ich heute einen knielangen Sommerrock, ein T-Shirt, eine dünne Strickjacke und einfache Stoffschuhe. Mir ist jetzt schon klar, ich hätte sehr sicher ein ernsthaftes Problem.

rucksack

 

Zunächst einmal habe ich keine Pass dabei. Auch keine Brille, ich verlasse mich sehr auf die Kontaktlinsen. Schon schlecht. Kein Ladekabel für das Notebook, da ich daheim ja eines habe. Arbeitsnotizbuch und -Schlüssel würde ich vermutlich im Büro lassen, wenn ich in der Sekunde schon weiß, dass ich „raus muss“, wie die Oma sagt. Beim Kindle würde ich zumindest kurz drüber nachdenken ihn mitzunehmen, wenn ich zehn Sekunden Zeit habe. Ich denke, er würde mitkommen. Auch der Rest bleibt einfach im Rucksack, wo er ist, insbesondere Brotdose und Becher kommen mit, wer weiß, ob ich unterwegs eventuell irgendwo etwas zu Essen oder etwas Warmes zu Trinken ergattern und einpacken kann. Auch die Wasserflasche kommt mit, obwohl sie aus Glas und schwer ist.

Beim nächsten Geldautomaten hebe ich soviel Geld ab, wie das Konto hergibt. Viel ist ohnehin nie drauf, da ich normalerweise alles auf ein Sparkonto gebe. Aber ein paar Hundert Euro sind es dann doch, die der Automat mir gibt. Die Scheine verteile ich über alle Taschen, einen Teil stecke ich in meine Handyhülle, wo auch die Karten und der Führerschein sind. Ich habe keine Hosentaschen – ganz schlecht! – aber ich würde unterwegs sicher etwas improvisieren, um noch etwas Geld in der Unterwäsche unterzubringen. Beim Bäcker ein paar Meter weiter kaufe ich zwei Brote und zwei Salzstangerl, viel mehr gibt es ohnehin nicht mehr. Ich stopfe die Salzstangerl in die Brotdose und eines der Brote nach ganz unten in den Rucksack. Das zweite bleibt oben auf. Dann mache ich mich auf den Weg.

Ich kann nicht mehr nach Hause, also versuche ich, den Mann anzurufen. Ich erreiche ihn nicht. Heute war er nicht auf Geschäftsreise sondern im Büro. Ich versuche es auf dem Festnetz, aber ich bekomme einfach keine Verbindung. Offenbar ist das Netz völlig überlastet. Ich mache mir Sorgen um die Katzen und hoffe, dass der Mann nach Hause kommt. Falls auch er „raus muss“, hoffe ich, dass er die drei Felltiger noch freilässt, sodass sie überhaupt eine Chance haben. In der Wohnung eingesperrt würden sie in ein paar Tagen elendig verhungern – der Gedanke bricht mir das Herz.

Ich gehe zum Bahnhof, will den Zug nehmen. Hunderte Menschen stehen vor mir am Schalter, alle wollen weg. Ich schaffe es nach Stunden endlich, eine Fahrkarte zu bekommen, will versuchen, mich zu meiner Familie nach Norddeutschland durchzuschlagen, auf jeden Fall raus aus urbanen Gebieten. Ich glaube, auf dem Land habe ich bessere Chancen, durchzukommen. Die Häuser haben oft zusätzliche Holzöfen, Gärten, manche mit Brunnen hinter’m Haus.

Der Zug ist völlig überfüllt, es dauert ewig, bis er sich endlich in Bewegung setzt. Frauen und Kinder überall, alle mit Taschen und Rucksäcken, alle wie ich auf der Flucht, raus aus Wien. Ich versuche wieder und wieder, den Mann anzurufen und einmal klappt es für ein paar Sekunden. Ich verstehe ihn kaum, sage einfach immer wieder „Familie“. Wir kennen uns lange, er wird wissen, was ich vorhabe. Hoffe ich.

Der Zug hält irgendwo einfach an, fährt nicht weiter. Die Leute sind unschlüssig, warten oder gehen? Ich muss an meinen Großvater denken, der auf dem Rückweg aus der Kriegsgefangenschaft von Österreich nach Norddeutschland gefahren bzw. gegangen ist. Ich weiß nicht einmal, wo genau wir gerade sind. Es ist dunkel draußen, bin ich noch in Österreich oder schon in Deutschland? Es ist stickig im Zug, nach zwei Stunden Warten steigen wir aus – mittlerweile sind wir eine Gruppe von etwa 20 Leuten. Die Situation schweißt zusammen. Mehr als doppelt so viele kommen mit uns mit. Die anderen bleiben im Zug und warten auf die Weiterfahrt. Ich weiß nicht, was aus ihnen wird.

Wir gehen an den Schienen entlang, einige stolpern, schlagen sich die Knie auf. Kinder werden getragen. Endlich ein Bahnhof – eine kleine Haltestation irgendwo in der Pampa. Jemand sagt, dass wir noch in Österreich wären. Wir gehen weiter. Bei Morgengrauen könnten wir angeblich die Grenze erreichen – zumindest im richtigen Land wären wir dann schon.

Der Himmel färbt sich, allerdings nur leicht golden, das Meiste ist schwarz. Es regnet. Ich hole den Schirm aus dem Rucksack, raffe die dünne Strickjacke enger um mich. Der Regen läuft mir an den nackten Unterschenkeln herab in die Stoffschuhe. Ich friere erbärmlich. Auch anderen geht es so, die meisten haben nicht einmal einen Schirm. Ich teile meinen mit einer älteren Dame; wir gehen schweigend weiter an den Schienen entlang. Der Zug hat uns noch nicht eingeholt.

Es wird hell und es regnet stärker. Viele sind erschöpft, wir müssen rasten und verlassen die Strecke hin zu einem kleinen Wäldchen in der Hoffnung, dort ein halbwegs trockenes Plätzchen für ein paar Stunden zu finden. Ich reiße etwa ein Drittel vom verbliebenen Salzstangerl ab, stecke den Rest zurück in die Brotdose. Ich trinke noch einen Schluck, dann ist die Wasserflasche leer. Ich hoffe, dass wir bald einen größeren Bahnhof erreichen, wo es Sanitäranlagen und einen Wasserhahn gibt. Meine dünne Sommerkleidung ist durchnässt. Ginge ich weiter, würde ich wärmer bleiben, aber ich bin zu müde, so wie die meisten anderen auch. Wir beschließen, noch bis zum Mittag hier zu bleiben und ich lege mich unter einen Busch. Mein privates Telefon ist leer, ich stecke es an die kleine Powerbank, versuche mit dem Firmentelefon wieder, den Mann zu erreichen. Er geht nicht dran, ich mache mir Sorgen. Mein Rucksack wird mein Kopfkissen, der Schirm lässt mich ein bisschen alleine sein. Mit Tränen in den Augen schlafe ich ein.

Die ältere Dame, die mit unter meinem Schirm war, rüttelt mich an der Schulter. Unser Trupp setzt sich gerade in Bewegung. Ich hoffe, dass es Mann und Katzen gut geht, nehme den Schirm und gehe wieder los. Mir tut jetzt schon alles weh und mir ist eisekalt. Die ältere Dame reicht mir ihre Wasserflasche, es ist nur noch eine kleine Pfütze darin und ich lehne ab. Sie hat weniger bei sich als ich und ich hoffe, mit meinem Bargeld noch Trinken und Essen kaufen zu können.

Wir gehen und die Stunden ziehen sich. Ich schaue auf das Telefon, das mittlerweile auch beinahe leer ist. Es ist schon fast fünf Uhr am Nachmittag. Bislang sind wir nur durch einige bald ausgestorbene Dörfer gekommen. Niemand macht uns auf, niemand lässt uns ein. Ich vermute, es ist wirklich niemand mehr hier. Aber wenn schon die Leute vom Land fliehen, das ich selber ja noch für sicherer halte als städtische Gebiete, was muss dann hier passiert sein? Vielleicht will ich es auch einfach gar nicht wissen. Aber wie sieht es dann im Vorharz aus, wo meine Familie lebt?

In der Entfernung taucht schemenhaft eine größere Ortschaft auf. Eine Stadt. Es sieht aus, als wären die Vandalen eingefallen. Den Schienen entlang finden wir den Bahnhof. Einige mobilisieren ihre letzten Kräfte und laufen zu den Gleisen, doch es deutet nichts darauf hin, dass hier ein Zug fahren würde. Ich gehe zu den Waschräumen, die völlig verdreckt sind. Überall liegen Papiertücher und es riecht nach Urin. Aber Licht brennt, also gibt es Strom – und damit hoffentlich auch Wasser. Die modernen Wasserhähne tun auf mein Fuchteln vor dem Sensor, was sie sollen. Ich stelle das Wasser so warm wie es geht, wasche mein Gesicht und lange die Hände, bis mir wärmer wird. Dann stelle ich mich so gut es geht unter den Handtrockner und reibe alle ganz besonders kalten Körperteile. Ich ziehe den Rock aus und trockne ihn so gut es geht. Schließlich ziehe ich ihn wieder an und fülle ich die Wasserflasche, trinke sie einmal leer und fülle sie gleich noch einmal. Mit dem Sensorsystem dauert es eine Weile, aber es geht. Ich wasche auch meinen Becher vom Vortag aus und fülle auch ihn mit Wasser.

Die Halle ist zugig, aber wenigstens trocken. Ich suche mir einen Platz an der Seite, wo sich auch einige aus unserer Gruppe niedergelassen haben. Mein Schirm verschwindet wieder im Rucksack und ich esse den Rest des Salzstangerls. Ich habe kein Messer für das Brot, aber jemand wird sicher eines haben. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern sitzt nicht weit entfernt. Sie haben nichts zu Essen und alle Geschäfte hier sind bereits geplündert. Mit meinem Geld komme ich hier nicht weiter. Ich breche das obere Brot entzwei und gebe es ihr. Ich habe ja noch genug.

Wir bleiben die Nacht über im Bahnhof, ich finde eine Steckdose und lade die Powerbank und beide Telefone voll. Ich versuche, ins Internet zu kommen um zu sehen, ob es jemand, den ich kenne, auch aus Wien heraus geschafft hat. Die Verbindung ist langsam, aber es geht. Ich finde allerdings keine entsprechenden Einträge. Vielleicht hatten sie noch keine Gelegenheit, etwas zu schreiben. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Am Morgen gehen wir weiter. Die Grenze muss doch endlich mal kommen. Und tatsächlich, gegen Mittag tut sich vor uns eine lange Barriere auf. Grenzkontrollen. Mir wird schlecht. Ich habe zwar einen deutschen Pass, aber der liegt auf dem Esstisch. Mein Führerschein ist österreichisch, da ich in Österreich den Motorradschein gemacht habe. Ich hoffe, sie lassen mich rein ins eigene Land. Alle stehen an. Es dauert ewig. Immer wieder kommen Leute weinend an uns vorbei – Menschen, die offenbar an der Grenze abgewiesen wurden. Schließlich bin auch ich an der Reihe. Ich erkläre dem Grenzer, dass ich Deutsche bin, aber keine Pass dabei habe und zeige meinen Führerschein. Erkläre, wie es zu diesem Dokument kam und bemühe mich, möglichst Hochdeutsch zu sprechen. Ich habe Glück, er glaubt mir. Vermutlich, weil kein Österreicher je von sich behaupten würde, Deutscher zu sein. Mit Tränen in den Augen überschreite ich die Grenze nach Deutschland. Ein paar Hundert Kilometer liegen noch vor mir. Ich weiß nicht, wo mein Mann ist, wie es den Katzen geht und seit den ausgestorbenen Dörfern hier mache ich mir Sorgen um meine Familie. Aber ich kann nichts tun, außer weiterzugehen.

***

Ich breche mein Gedankenexperiment an dieser Stelle ab. Mir ist klar, dass ich völlig unvorbereitet nur mit großen Schwierigkeiten nach Hause käme. Ich glaube schon, es schaffen zu können, aber einfach würde es nicht. Ich denke ernsthaft darüber nach, eine Notfalltasche anzulegen, in der ich zumindest ein paar lebensrettende Utensilien wie ein Messer, eine Decke, eine Regenjacke oder ähnliches zusammenpacke, um im Zweifelsfall schnell gerüstet zu sein. Vielleicht packe ich sogar meinen Pass ab sofort in den Rucksack. Aber noch haben wir hier in Westeuropa ja nichts zu befürchten. Noch sind wir nicht in der Situation, schnell das Land verlassen zu müssen, weil die Stadt hinter uns ausgebombt wird. Noch sitzen wir warm, trocken und sicher daheim und fragen uns, was es bräuchte, dass wir zu Flüchtlingen würden.

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7 Kommentare

  1. Starke Vision.
    Zwei Dinge könnten im Szenario aber anders sein:
    erstens – Festnetztelefone funktionieren ziemlich gut, wenn Handynetze überlastet sind. Zumindest solange die Leitungen nicht zerbombt werden.
    zweitens – die Zugtüren gehen nur auf, wenn der Lokführer das will UND die Elektronik funktioniert. Ohne Elektronik wirds dann auch mit der Lüftung schwierig. Fenster lassen sich heutzutage nicht öffnen außer in wenigen Regionalzügen. Vielleicht gibt es Hammer für den Notfall, um Scheiben einschlagen zu können? Die Panik möchte ich mir aber auch in diesem Fall gar nicht vorstellen.

    Okay, ich will das Gedankenexperiment hier auch nicht weiter spinnen.

    1. Hallo Anni, stimmt, ich habe mir hier jetzt nicht die Zeit genommen, ein Festnetztelefon zu suchen bzw. auch da stundenlang anzustehen. Wobei der Mann auch nur im Büro Festnetz hat. Aber die könnten mir vielleicht sagen – falls noch wer da wäre – wo er hingegangen/gefahren ist.

      Beim Zug bin ich davon ausgegangen, dass wir es irgendwie geschafft haben, auszusteigen. Aber ja, schon alleine dabei kann noch eine ganze Weile ins Land ziehen und man kann eine ganze Panikwelle heraufbeschwören. Erste Tote direkt im Zug, etc.

      Was aber auch drin fehlt ist, dass ich sicher irgendwann am zweiten Tag Fieber bekommen würde, wenn ich komplett nassgeregnet und durchgefroren draußen geschlafen habe. Das ist ein Erfahrungswert, der auch nicht berücksichtigt ist.

      Ich habe jedenfalls heute Früh den Pass in den Rucksack gepackt und werde auch ein Klappmesser für den Notfall anschaffen. Darf bloß nicht vergessen, es vor der nächsten Flugreise auszupacken.

  2. Pingback: Markierungen 09/19/2015 - Snippets
  3. Kann aber auch sein, dass du nicht krank wirst, weil der Körper auf Notfallprogramm schaltet … und erst, wenn der akute Stress vorbei ist, mit der Abwehr nachlässt. Hört man jedenfalls immer wieder davon.
    Auch spannend, was man alles vermag, in so Situationen.

    1. Wenn nicht ich, dann sicher eine ganze Reihe der Kinder im Tross… Aber ja, kann wohl sein, dass das auf sich warten lässt, bis man wieder zur Ruhe kommt.

  4. Danke für diesen Text, man sieht wohl viele schreckliche Bilder, versucht zu helfen wo man kann, aber sich das dann so detailliert auszumalen, ist schon erschreckend, ein Grund mehr für unsere Reise. Immer mobil zu sein. Wir haben ihn bereits mehrfach weitergeleitet, auch an Menschen, die nicht so sehr informiert sind oder gar negative Gefühle gegenüber den Flüchtlingen hegen. Danke auf jeden Fall, es gruselt mich!

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